WIESBADEN – In der Bäckertheke ein Brötchen aussuchen, das so liegt, dass sie nicht drauf zeigen kann? Auf eine Feier gehen, wo sie sich eventuell vorstellen muss? Ein Vorstellungsgespräch führen oder alleine in den Urlaub fahren? Das war lange undenkbar für Beate Köhler. „Eigentlich habe ich nicht am Leben teilgenommen“, sagt die 34-Jährige heute. 25 Jahre lang hat die Hessin stark gestottert. „Heute kann ich in Situationen sprechen, von denen ich früher nur geträumt habe“, erzählt sie. „Ich telefoniere gerne, halte Reden, gehe ohne Angst auf Menschen zu.“ Vor zwei Jahren entschied sie sich für die Teilnahme am „McGuire-Programm“, das mit einer Kombination aus Atemtechnik und mentalen Strategien Stottern verbessern soll. „Heilung gibt es beim Stottern nicht“, stellt Köhler klar. „Ich bin dem aber nicht mehr hilflos ausgesetzt.“
Beginn in der Kindheit
800.000 Menschen stottern in Deutschland. Am Sonntag ist der „Welttag des Stotterns“. Die Wiesbadener Logopädin Indra Engemann-Vossnacke behandelt Stotterer. Sie sagt: „In der Gesellschaft nehmen die Vorurteile gegenüber Menschen, die stottern, glücklicherweise ab. Früher galten sie häufig als dumm oder langsam.“ Dabei sei genau das Gegenteil der Fall, meint sie. „Stotterer sind meist sehr kluge Menschen, die sich viele – manchmal zu viele – Gedanken machen und sich dadurch viel Druck aufbauen“.
Zu den Auslösern des Stotterns gibt es keine gesicherten Ergebnisse. Es spielt auf jeden Fall eine neurologische Komponente eine Rolle, eine Störung der Steuerung der Sprechmotorik. Deshalb kann sich das Problem innerhalb einer Familie vererben. „Bei den meisten Menschen beginnt das Stottern im Kindesalter oder in Umbruchphasen, wie der Pubertät“, sagt Engemann-Vossnacke.
Köhler hat mit sieben Jahren in ihrer Heimatstadt Gießen zu Stottern begonnen. Und schließlich entwickelte sie sich zur „Außer-Kontrolle-Stotterin“, wie sie es nennt. Wenn man Videos anschaut, die sie vor zwei Jahren zeigen, kann man sich nicht vorstellen, dass es dieselbe Person ist. Angestrengt versucht Köhler, ihren Namen herauszupressen, ihr Gesicht wird rot, sie schwitzt und die Verzweiflung steht der Chemikerin förmlich ins Gesicht geschrieben. Heute huscht jedes Mal, wenn sie ihren Namen sagt, ein Lächeln über ihr Gesicht. „Das ist für mich der größte Sieg – immer wieder“, erzählt sie.
Kontrolle des Sprechtempos
Logopädin Engemann-Vossnacke berichtet, viele ihrer erwachsenen Patienten kämen mit einem „enormen Leidensdruck“ zu ihr. Wenn die Behandlung Verbesserungen bringe, sagen sie oft: „Hätten meine Eltern so eine Therapie mal früher mit mir gemacht“. „Alle Behandlungsansätze basieren im Grunde auf ähnlichen Komponenten: Kontrolle der Körperhaltung, der Atmung und des Sprechtempos. Viele Stotterer versuchen beispielsweise, besonders schnell zu sprechen – desto schneller ist man fertig.“ Je stärker aber gegen das Stottern angekämpft werde, desto mehr Druck entwickele sich und das verstärke das Problem.
Beate Köhler hat jahrelang Therapien gemacht, auch als sie in Wiesbaden lebte – geholfen hat ihr schließlich das kostenpflichtige Programm und „viel Übung“. „Das Training war anstrengend und harte Arbeit. Jeden Tag mit meinem Coach zu telefonieren, obwohl ich früher meist nicht mal mehr den Telefonhörer abgenommen habe, war eine riesige Hilfe“, erzählt sie. Und auch heute noch hat sie ihre „Wörter aus der Hölle“. „Die kommen aus dem Nichts. Aber ich bin dem nicht hilflos ausgesetzt, ich weiß, wie ich mit diesen Situationen umgehen kann.“ Köhler muss jetzt nicht mehr Augenkontakt vermeiden, um ja nicht angesprochen zu werden.
„Bei meiner Hochzeit war für mich nicht die wichtigste Frage, welches Kleid ich tragen werde. Sondern, wie ich das mit dem Ja-Wort hinbekommen soll. Ein immenser Druck hat sich da aufgebaut.“ Schließlich haben sie und ihr Mann sich für ein gemeinsames Eheversprechen entschieden, zu dem sie zusammen „Ja“ sagen konnten. Ihr Leben war nur noch vom Stottern bestimmt. „In einer Welt, in der sich alles um Kommunikation dreht, konnte ich nicht teilnehmen“, sagt Köhler. Erst seit sie ihr Stottern in den Griff bekommen hat, kann sich die junge Frau auch aktiv entscheiden, was sie im Leben möchte. Im vergangenen Jahr zog sie für einen Job von Hessen nach Hamburg. Das Vorstellungsgespräch war keine Hürde mehr für sie.
Von Nele Leubner Link: Nachrichten Wiesbaden21.10.2017